Formale Inanspruchnahme der Priorität: Vorlage G1/22 und G2/22 an die Große Beschwerdekammer des EPA

Ein gültiger Prioritätsanspruch setzt nicht nur voraus, dass der beanspruchte Gegenstand in einer früheren Prioritätsanmeldung vollständig offenbart wurde (materieller Prioritätsanspruch), sondern auch, dass derjenige, der die Priorität in Anspruch nimmt, bei der Ausübung dieses Rechts dazu berechtigt war (formaler Prioritätsanspruch). In den letzten Jahren hat die Zahl der Fälle, die sich auf formale Prioritätsansprüche beziehen und somit auch die Zahl der Rechtsfragen, die sich bei der Beurteilung des formalen Prioritätsanspruchs stellen, zugenommen. Dabei bildet Artikel 87 (1) EPÜ eine Grundlage für den formalen Prioritätsanspruch, wenn entweder die Anmelder der früheren, prioritäts-begründenden Anmeldung mit denjenigen der späteren, prioritäts-beanspruchenden Anmeldung identisch sind oder falls diese Anmelder nicht identisch sind, die späteren Anmelder die Rechtsnachfolger der vorherigen Anmelder sind. Wie so oft stecken die Tücken auch hier im Detail: Ein weiterer Artikel auf unserer Website enthält umfangreichere Informationen hierzu (siehe hier). Aus diesen Details ergeben sich neue Rechtsfragen, deren Klärung immer dringlicher wird. Zumindest auf einige dieser Fragen sind nun Antworten zu erwarten.

Am 28. Januar 2022 wurden der Großen Beschwerdekammer von einer EPA-Beschwerdekammer Rechtsfragen zur formalen Inanspruchnahme der Priorität vorgelegt. Die Vorlagen G1/22 und G2/22, die auf den Beschwerden T2719/19 und T1513/17 beruhen, sind nun anhängig und hier zu einer Vorlage zusammengefasst. Der Fall, der der Vorlage zugrunde liegt, tritt häufig insbesondere bei älteren US-Anmeldungen auf, bei denen die Anmelder einer früheren vorläufigen US-Anmeldung natürliche Personen (Erfinder) sind, die in der späteren prioritäts-beanspruchenden PCT-Anmeldung nicht oder nicht vollständig als Anmelder auftreten, oder die zwar als Anmelder auftreten, aber ohne ausdrückliche territoriale Wirkung für die Vertragsstaaten des EPÜs. In solchen Fällen kann es wichtig sein, die fristgerechte Übertragung des Prioritätsrechts an den/die Anmelder der späteren PCT-Anmeldung nachweisen zu können. Neben weiteren relevanten Sachverhalten, die in der nachfolgenden Tabelle zusammengefasst sind, liegt der aktuellen Vorlage die eben erläuterte Fragestellung zugrunde. 

Einheit

Anmelder der …

Übertragung vor dem PCT-Anmeldedatum an …

… prioritäts-begründenden vorläufigen US-Anmeldung?

… prioritäts-beanspruchenden PCT-Anmeldung?

… Organisation A?

… Organisation B?

Erfinder 1

Ja

Ja

(nur für USA)

Ja

Nein

Erfinder 2

Ja

Ja

(nur für USA)

Nein

Nein

Erfinder 3

Ja

Ja

(nur für USA)

Nein

Nein

Organisation A

Nein

Ja

(für Länder außerhalb der USA, einschließlich EPÜ-Vertragsstaaten)

 

 

Organisation B

Nein

Ja

(für Länder außerhalb der USA, einschließlich EPÜ-Vertragsstaaten)

 

 

Von besonderer Bedeutung für die Frage der formalen Inanspruchnahme der Priorität ist hier die Tatsache, dass keine der Organisationen A und B, die in der prioritäts-beanspruchenden PCT-Anmeldung mit Wirkung u. a. für Europa als Anmelder angegeben waren, zu den Anmeldern der früheren vorläufigen und prioritäts-begründenden US-Anmeldung gehörten. Von Bedeutung ist auch das Fehlen fristgerechter (d.h. vor dem PCT-Anmeldetag) Übertragungen von jedem Erfinder/Anmelder der vorläufigen US-Anmeldung an die Organisation A oder, wie die vorliegende Entscheidung nahelegt, an die Organisation B. Auf der Grundlage dieses Sachverhalts hat die Kammer nun der Großen Beschwerdekammer die folgenden Fragen vorgelegt:

I. Verleiht das EPÜ dem EPA die Befugnis zu entscheiden, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, Rechtsnachfolger im Sinne von Artikel 87 (1) b) EPÜ zu sein?

II. Falls Frage I bejaht wird

Kann sich ein Beteiligter B wirksam auf das in einer PCT-Anmeldung beanspruchte Prioritätsrecht berufen, um Prioritätsrechte nach Artikel 87 (1) EPÜ zu beanspruchen,

wenn in dem Fall

1) in einer PCT-Anmeldung der Beteiligte A als Anmelder nur für die USA und der Beteiligte B als Anmelder für andere benannte Staaten, einschließlich des regionalen europäischen Patentschutzes, benannt ist und 

2) die PCT-Anmeldung eine Priorität aus einer früheren Patentanmeldung beansprucht, in der der Beteiligte A als Anmelder benannt ist, und

3) die in der PCT-Anmeldung beanspruchte Priorität im Einklang mit Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft steht?

Frage I ist weit gefasst, da sie die Befugnis des EPÜ in Frage stellt, dem EPA überhaupt die Beurteilung der Rechtsnachfolge zu gestatten. Einige Ausführungen in der Vorlage lassen vermuten, dass diese Frage nur deshalb aufgenommen wurde, um sie abschließend zu klären, da sie sich bereits in der Vergangenheit gestellt hat und sich sonst auch in Zukunft wieder stellen wird. Frage II befasst sich eingehender mit dem spezifischen Sachverhalt des der Vorlage zugrundeliegenden Falles, in dem verschiedene Anmelder, einschließlich der in der ursprünglichen Prioritätsanmeldung als Anmelder Aufgeführten, auch Anmelder in der PCT-Anmeldung sind, jedoch mit unterschiedlicher territorialer Wirkung. Dieses Szenario wird von der vorlegenden Kammer als "PCT joint applicants approach" bezeichnet und als vorlagewürdig für eine letztinstanzliche Entscheidung angesehen.

Eine Klärung der gerade erst vorgelegten Rechtsfragen wird noch eine Weile auf sich warten lassen. Selbst wenn diese Entscheidung dann vorliegt, sind womöglich noch nicht alle für die formale Inanspruchnahme der Priorität relevanten Fragen geklärt. Angesichts der Rolle, die Fragen der formalen Inanspruchnahme der Priorität in wichtigen Patentstreitigkeiten vor dem EPA zunehmend spielen, ist jedoch selbst eine partielle Klarstellung ein erfreulicher Schritt vorwärts. 

 

Autor: Steven M. Zeman