HOT TOPIC: Herstellungsprivileg nach Art. 5 Abs. 2b) der geänderten Verordnung (EG) 469/2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel
Das Herstellungsprivileg (auch „SPC Waiver“ oder „SPC Manufacturing Waiver“) und seine Voraussetzungen sind seit dem ersten Urteil des Landgerichts München I aus dem Oktober 2023 Gegenstand heftiger Kontroversen und uneinheitlicher Entscheidungen nationaler Gerichte in der Europäischen Union. Das Urteil des Brüsseler Unternehmensgerichts als derzeit letztes Urteil in der Reihe erging am 23. Dezember 2024. Es gibt Anlass für einen Überblick.
I. Ergänzende Schutzzertifikate für Arzneimittel und das Herstellungsprivileg
Neue Arzneimittel müssen ein oft langwieriges Zulassungsverfahren durchlaufen, bevor sie die erforderliche Genehmigung für das Inverkehrbringen (Zulassung) erhalten. Daraus folgt eine erhebliche Verkürzung des Zeitraums, innerhalb dessen das Arzneimittel bei bestehendem Patentschutz vermarktet werden kann. Ergänzende Schutzzertifikate (ESZ) sollen einen Ausgleich für die benötigte Zeit schaffen, indem sie die Patentlaufzeit de facto um 5, bzw. 5,5 Jahre verlängern.1S. Verordnung VO (EG) 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 06.05.2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel („ESZ-VO“). Dahinter steht das Ziel, die zur Entwicklung von Arzneimitteln erforderliche Forschung und Innovation zu fördern und eine Verlagerung der Arzneimittelforschung zu Standorten außerhalb der Europäischen Union (EU) zu verhindern.
Unbeabsichtigte Nebenfolge der Einführung des ESZ war jedoch, dass in der EU niedergelassene Hersteller von Generika und Biosimilars Präparate in der EU nach Ablauf der Patentlaufzeit nicht einmal für die Ausfuhr in Drittländer oder zum Zweck der Lagerung für einen begrenzten Zeitraum vor dem Ablauf eines ESZ für den Tag-1-Markteintritt herstellen konnten.
Der europäische Gesetzgeber erkannte diese Nebenfolge und sah Überarbeitungsbedarf der relevanten Verordnung. Im Rahmen der Überarbeitung galt es, einerseits gleiche Wettbewerbsbedingungen für die in der EU ansässigen Hersteller zu schaffen und die Position der Hersteller im Wettbewerb mit Herstellern mit Sitz außerhalb der EU zu stärken, andererseits die Rechte der ESZ-Inhaber im Wesentlichen unangetastet zu lassen. Insgesamt sollten Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum gefördert, Arbeitsplätze geschaffen und ein Beitrag zur besseren Versorgung mit Arzneimitteln geleistet werden.
Ergebnis der Überarbeitung war insbesondere die Einführung des sog. Herstellungsprivilegs,2Änderung des Art. 5 der ESZ-VO durch die VO (EU) 2019/933 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.05.2019 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel. das von vornherein die Reichweite des ESZ begrenzt.
Die vom Herstellungsprivileg erfassten Handlungen können in zwei Gruppen unterteilt werden:
- Herstellung des Erzeugnisses zum Zwecke der Ausfuhr des Erzeugnisses in Drittländer (Art. 5(2)a)(i) ESZ-VO (in der geänderten Fassung)), und
- Herstellung des Erzeugnisses frühestens sechs Monate vor Ablauf des ESZ zu dem Zweck, es in dem Mitgliedstaat zu lagern, in dem die Herstellung stattgefunden hat, um das Erzeugnis nach Ablauf des ESZ in der EU in Verkehr zu bringen (Art. 5(2)a)(ii) ESZ-VO (in der geänderten Fassung)).
In beiden Fällen sind auch solche damit zusammenhängenden Handlungen, die für die Herstellung und/oder Lagerung des Erzeugnisses in der EU unbedingt erforderlich sind, vom Schutzbereich des ESZ ausgeschlossen.
Um von dem Herstellungsprivileg zu profitieren, müssen Hersteller strenge Voraussetzungen erfüllen. Dazu zählen die Erfüllung von Mitteilungspflichten gegenüber der zuständigen Behörde und dem ESZ-Inhaber. Weiterhin gelten Sorgfaltspflichten entlang der Lieferkette und Etikettierungspflichten im Fall der Ausfuhr in Drittländer.
II. Entscheidung des Landgerichts München I vom 20.10.20233Landgericht München I, Endurteil v. 20.10.2023, Az.: 21 O 12030/23 – Biosimilar (veröffentlicht in BeckRS 2023 39994 und MittdtPatA 2024, 133). Die Verfasserin war als Verfahrensbevollmächtigte an dem Verfahren beteiligt.
Im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens hatte das Landgericht München I zu entscheiden,
- ob bzw. wann ein Hersteller von Biosimilars, der eine Mitteilung gegenüber der zuständigen Behörde vornimmt, die Genehmigungsnummer für das Inverkehrbringen in einem Drittstaat mitteilen muss, und
- ob das Herstellungsprivileg auch für den Export in Drittstaaten in Anspruch genommen werden kann, in denen Patent- oder ESZ-Schutz besteht.
Das Landgericht urteilte, das Herstellungsprivileg sei nach seinem Sinn und Zweck einschränkend auszulegen. Ein Hersteller könne sich nicht darauf berufen, wenn er nicht wenigstens für ein Land die Genehmigungsnummer mitgeteilt und auch nicht erklärt habe, in welches Drittland eine Ausfuhr erfolgen solle. Zudem bestehe das Herstellungsprivileg nur für den Fall der Ausfuhr in schutzrechtsfreie Drittländer. Die Entscheidung stieß auf Kritik, insbesondere bei Generika- und Biosimilarherstellern und deren Interessenvertretungen.
III. Entscheidung des Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) vom 23.01.20244Rechtbank Den Haag, Entscheidung vom 23.01.2024, Az.: C/09/657817/KGZA23–1039 – Janssen Biotech ./. Samsung Bioepis, herunterzuladen über die Webseite www.uetspraken.nl.
Der Rechtbank Den Haag erließ, ebenfalls im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens, nur wenige Monate nach dem Landgericht München I ein in den entscheidenden Punkten abweichendes Urteil.
Das niederländische Gericht entschied wie folgt:
- Dem Wortlaut der ESZ-VO (in der geänderten Fassung) sei nicht zu entnehmen, dass das Herstellungsprivileg nur in Anspruch genommen werden könne, wenn der Hersteller in der Mitteilung an die nationale Behörde und den ESZ-Inhaber eine Genehmigungsnummer angebe. Eine andere Auslegung stünde nicht in Einklang mit dem Sinn und Zweck der ESZ-VO, gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Herstellern in der EU und Herstellern in Drittländern zu schaffen. Außerdem hätten die Änderungen des Verordnungstexts im Verordnungsgebungsverfahren und die dort erfolgte Streichung des Erfordernisses einer vorläufigen Auflistung der Drittländer nicht das Ziel gehabt, die Mitteilungspflicht gegenüber der nationalen Behörde zu vereinfachen. Vielmehr sollte den Bedenken Rechnung getragen werden, dass im Rahmen der Mitteilung vertrauliche und sensible Daten offenbart werden müssten.
- Die Inanspruchnahme des Herstellungsprivilegs erfordere nicht, dass die Ausfuhr in schutzrechtsfreie Länder geplant sei. Der Wortlaut der ESZ-VO setze weder voraus, dass in den Ausfuhrstaaten keine Schutzrechte bestünden, noch, dass der Hersteller dies prüfen müsse. Sollte der Hersteller das Produkt in einem Drittland in Verkehr bringen, sei der Schutzrechtsinhaber gehalten, in dem jeweiligen Drittland ein Verletzungsverfahren zu führen.
- Das Herstellungsprivileg erlaube (als verbundene Handlung) auch die Lagerung für einen Zeitraum, der im normalen Geschäftsverlauf üblich ist.
IV. Entscheidung der Nederlandstalige ondernemingsrechtbank Brüssel (Brüsseler Unternehmensgericht) vom 23.12.20245Nederlandstalige ondernemingsrechtbank Brussel, Entscheidung v. 23.12.2024, Az.: A/24/02113 – Amgen ./. Samsung Bioepis (s. Kluwer Patent Blog 31.12.2024, abrufbar unter https://patentblog.kluweriplaw.com/2024/12/31/a-christmas-gift-for-the-biosimilar-industry-landmark-judgment-in-spc-manufacturing-waiver-case/).
Die Nederlandstalige ondernemingsrechtbank Brüssel hatte rechtlich über dieselben Fragen zu entscheiden, über die auch das Landgericht München I und der Rechtbank Den Haag zu entscheiden hatten.
In Ergebnis und Begründung stimmt das Urteil des belgischen Gerichts weitgehend mit der Entscheidung des niederländischen Gerichts überein. Die Angabe einer Genehmigungsnummer oder eine Liste der geplanten Ausfuhrländer sei nicht erforderlich, um sich auf das Herstellungsprivileg berufen zu können. Das Herstellungsprivileg erfordere nicht, dass die Ausfuhrländer schutzrechtsfrei seien, und eine Lagerung sei für einen im normalen Geschäftsverlauf üblichen Zeitraum zulässig.
Das Urteil ist von besonderer Bedeutung, da es sich um die erste Hauptsacheentscheidung eines Gerichts in der EU zum Herstellungsprivileg handelt.
V. Einschätzung und Ausblick
Die Gerichte in München auf der einen Seite und in Den Haag und Brüssel auf der anderen Seite kommen mit ihrer jeweiligen Auslegung zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der Grund dafür liegt darin, dass ihrer Auslegung jeweils ein anderes Verständnis von Sinn und Zweck der ESZ-VO und des Herstellungsprivilegs zugrunde liegt:
Das Landgericht München I geht davon aus, die ESZ-VO wolle den ESZ-Inhabern, trotz der Ausnahmeregelungen, einen möglichst umfassenden Schutz gewähren – daraus folgt eine enge Auslegung des Herstellungsprivilegs. Das niederländische und das belgische Gericht hingegen gehen davon aus, das Herstellungsprivileg solle zuvorderst der Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen zwischen Herstellern mit Sitz in der EU und Herstellern in Drittstaaten dienen – daraus folgt eine weite Auslegung des Herstellungsprivilegs.
Es mag gute Argumente für die weitere Auslegung der niederländischen und belgischen Gerichte geben. In jedem Fall ist es aufgrund der enormen wirtschaftlichen Bedeutung, insbesondere für Hersteller von Generika und Biosimilars mit Produktionsstätten in der EU, aber auch im Hinblick auf Investitionen in der EU und die Lieferketten von Arzneimitteln, wünschenswert, in naher Zukunft Rechtssicherheit zu erhalten. Rechtssicherheit könnte durch obergerichtliche Entscheidungen der nationalen Gerichte und, falls erforderlich, durch eine Vorlage zum Gerichtshof der Europäischen Union erreicht werden. Ferner könnte die Europäische Kommission tätig werden und die einschlägigen Bestimmungen der ESZ-Verordnung (in der geänderten Fassung) präzisieren und/oder Leitlinien oder eine Mitteilung herausgeben, um die bestehenden Unsicherheiten zu beseitigen.
Die weiteren Entwicklungen werden mit Spannung erwartet und genau beobachtet werden.